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(Mutter-) Liebe

Unterwegs in Devon, Süd-West-England, Ende Oktober

Kalt, nass, neblig – es ist deutlich: der Herbst ist schon fast ein Spätherbst, entwickelt sich schleichend zum Winter. Die Fremdenverkehrsorte am Meer sind nur noch spärlich besucht.

Auf der feucht-kalten Wiese, ein paar Meter vom Wasser entfernt, zwei Möwen: Mutter und Kind.

Nach bewährter und erfolgreich erprobter Weise hat Kind Möwe den Schnabel aufgerissen, tanzt aufgeregt vor Mutter Möwe hin und her, schreit herzzerreißend, und es ist absolut eindeutig: “Hunger! Futter her! Und zwar sofort!” Mutter Möwe beeindruckt das allerdings nicht im Geringsten: Sie dreht sich, sie wendet sich, sie geht ihrem Kind auf jede nur mögliche Weise aus dem Weg.

Das Geschrei von Kind Möwe, enttäuscht in seinen Erwartungen, wie gewohnt sein Futter schluckgerecht in den Schlund geschoben zu bekommen, wird entschiedener, lauter, jämmerlicher. Kaum zum Aushalten.
Dieses Kind hat definitiv grausamen Hunger!
Mutter Möwe dagegen zeigt sich weiterhin völlig unbeeindruckt, ja genervt, hüpft weg, fliegt sogar ein paar Meter weiter. Sie zeigt absolut kein Anzeichen dafür, dass sie gewillt sein könnte, den Hunger ihres Kindes zu stillen.

So vergehen 30 Minuten. Es ist Abend. Es wird kalt. Nebel wabert.

Nichts hat sich verändert am Geschehen in dieser Zeit: Kind Möwe schreit erbärmlich seinen Hunger in die Welt und drängt sich laut und penetrant und unaufhörlich seiner Mutter mit weitgeöffnetem Schlund auf.
Mein Gott, hat dieser Vogel Hunger!
Mutter Möwe bleibt standhaft in ihrer Verweigerung, ihrem Nein, das Hungerbedürfnis ihres Kinders zu stillen. Sie denkt gar nicht daran. Nichts wird sie umstimmen, das ist eindeutig.

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Bald ist Winter. Höchste Zeit. Es ist wirklich höchste Zeit, dass Kind Möwe lernt, sich selbst zu ernähren, aus eigenem Antrieb aktiv zu werden und für sich Futter zu suchen. Kommt erst einmal die Kälte, kommt erst einmal der erste Frost, dann wird es schnell zu spät sein. Instinktsicher – jenseits jeder menschlichen Sentimentalität – weiß Mutter Möwe das. Und sie tut das einzig Richtige: Sie verweigert sich jetzt konsequent in ihrer nährenden Rolle dem Kind gegenüber. Das Kind weiter zu füttern, würde sich nun nicht mehr behütend und erhaltend auswirken, sondern im Gegenteil das Leben des kleinen Vogels gefährden. Mutter Möwe lässt das Kind bis zum Unerträglichen schreien. Sie hält das aus. In ihrem Instinkt ist klar gegenwärtig: Entweder das Kind schafft es aus eigenem Antrieb – oder es wird den Winter nicht überleben.

(Mutter-) Liebe hat viele Gesichter.

 

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