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Voll normal

Es gibt Worte, die mir unbehaglich sind, ja Furcht einflößen. Eines dieser Worte ist “normal”.
“Das ist doch nicht normal!” oder gar “Der/Die ist ja nicht normal!”, “Es ist nicht normal, dies und jenes zu tun/zu lassen!” etc.

Wertung und Abwertung liegen bei diesem Wort nahe beieinander, und Volkesstimme ist oft ganz schnell dabei, die Keule “Normalität” als Waffe gegen nicht verstandene, andersartige Menschen und Verhaltensweisen einzusetzen.

So kommt es, dass auch Hochbegabte häufiger als “nicht normal” beschimpft und ausgegrenzt werden.

Aktuell wieder erschreckt hat mich dieses Wort heute im Zusammenhang mit der Diskussion über Dieter Bohlen und seine Pöbeleien in der neuen Staffel von “Deutschland sucht den Superstar”.
Es hat mich sogar tief erschreckt.

Die Kommission für Jugendmedienschutz beobachtet die Sendung jetzt wegen der unsäglichen und menschenverachtenden Bemerkungen, die Bohlen in der Sendung absondert.
Tief unter der Gürtellinie” kommentiert die WAZ heute.

Als ich heute, völlig unabhängig voneinander, ein Mädchen, 15, und einen Jungen, 16, nach Bohlen’s pöbelnd-verachtenden Bemerkungen fragte, bekam ich beide Male dieselbe Antwort: “Wieso?! Ist doch normal!”

Das also ist normal!

Das Schlimme ist, dass die täglichen, sich ständig in immer reißerischer inszenierten menschlichen Grenzbereichen bewegenden Talk- und Gerichtsshows, all die Daily Soaps, viele, viele schrecklich niveaulos albernen Comedy-Sendungen und Menschen wie Stefan Raab, Dieter Bohlen etc. es geschafft haben, das Lebens- und Wertegefühl in Deutschland zu verändern.

Eine Gesellschaft, in der die Art der präpubertären Kommunikation und des menschenverachtenden Verhaltens eines Dieter Bohlen zunehmend als “normal” befunden wird, und eine Jugendgeneration, die diese Pöbeleien entsprechend selbst auf dem Schulhof praktiziert, geben nicht zu großer Hoffnung Anlass.

Welche Konsequenzen wird ein solcher Niveau- und Werteverlust, der noch nicht einmal mehr als solcher erlebt wird, in der Zukunft haben? Wie wird er das Menschenbild und unsere Lebenswelt prägen?

Manchmal befürchte ich, immer mehr Menschen kommen sich mit und mit selbst abhanden.

Wenn das so sein sollte – wie wird dann unsere “Normalität” aussehen?

 

38 Kommentare zu “Voll normal”

  1. SLash schrieb am 24. Januar 2007 um 22:45: 

    Diese Gedanken hatte ich auch und bewerte “normal” für mich als “normal”. Will sagen, wir müssen weg vom “Normendenken” oder der “verbindlichen Regel”, hin zum “Alltäglichen”. Die Normalität die wir er:leben ist unser Alltag. Alles was in unserem Alltag vorkommt, was wir kennen ist normal (alltäglich), oder wird als gewöhnlich empfunden. Ordinär wird negativ empfunden, während extraordinär ins positive übergeht. Was für einen Behinderten “normal” ist, ist für uns abnormal oder unnormal. Die Bewertung ist Ansichtssache, wie so oft. Die Norm ist ein Maßstab mit vielen Perspektiven.

    Zitat:
    “Das Schlimme ist, dass die täglichen, sich ständig in immer reißerischer inszenierten menschlichen Grenzbereichen bewegenden Talk- und Gerichtsshows, all die Daily Soaps, viele, viele schrecklich niveaulos albernen Comedy-Sendungen und Menschen wie Stefan Raab, Dieter Bohlen etc. es geschafft haben, das Lebens- und Wertegefühl in Deutschland zu verändern.”

    Es ist die Frage, ob das Ursache – Wirkung Prinzip so stimmt ? Es muss doch eine Bereitschaft für Niveaulosigkeit schon da sein, sonst könnten solche Typen gar nicht überleben. Wobei Niveau nicht weit von Norm(alität) und seinem Standard entfernt ist.

    Zitat:
    “Welche Konsequenzen wird ein solcher Niveau- und Werteverlust, der noch nicht einmal mehr als solcher erlebt wird, in der Zukunft haben? Wie wird er das Menschenbild und unsere Lebenswelt prägen?”

    Wir werden die Perversion pervertieren und wieder zurück zur Prüderie finden. Danach wird sich der Kreislauf wiederholen. Ähnlich der Mode, oder der Sprache. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch alles tun wird was er kann. Die Ethik passt sich an…

  2. speybridge schrieb am 25. Januar 2007 um 08:16: 

    Ja, klar: die Bereitschaft zur Niveaulosigkeit ist da, keine Frage. Dass “die Massen” verführbar sind, wissen wir nicht erst seit den Tagen des Nationalsozialismus’. Schon im alten Rom setzte man gerne auf “Brot und Spiele”, um das Volk zu manipulieren und ruhig zu stellen.
    Dass, was Bohlen und Konsorten machen, das ist das billigste Bedienen der niedrigsten Instinkte der Menschen. Das fördert natürlich keinesfalls irgendeine Entwicklung in Richtung von mehr Bewusstsein, sondern trägt leider zur allgemeinen Verdummung und Verrohung bei. Klammheimlich hält sich leider ein Teil des “Volkes” vor Lachen die Bäuche. Die Quoten für viele unsägliche Sendungen im Fernsehen sprechen eine deutliche Sprache.
    All das macht es aber umso wichtiger, ein Gegengewicht zu setzen, gegenzusteuern. Man muss kein Moralapostel, um die allgemeine Sprachverrohung, die auch irgendwann mit einer Verrohung des Verhaltens verbunden ist – und überall wird ja von der steigenden Aggressivität und einer neuen Dimension von Gewalt (-bereitschft) gesprochen – besorgniserrregend zu finden.

  3. SLash schrieb am 25. Januar 2007 um 12:15: 

    Willst du die Masse qualitativ aufmotzen ?
    Dumme Sprüche kommen da an, wo die Dummheit sitzt. Da wo sie sitzt ist bereits die Aggressivität, das Unwissen, der Proll verborgen.
    Die Wechselwirkungen sind bekannt: Keine Quote, keine Sendung.
    Die Bildzeitung finde ich schlimmer, da sie Macht hat. Bohlen & Co sind Trendsetter und haben keine Nachhaltigkeit. Und schau dir die Wähler an, was sie mit ihrer Macht (wenn auch nur alle 4 Jahre) anfangen. Was für Konflikte müssen eigentlich noch entstehen, bis die Mehrheit mal etwas ändert ?

  4. speybridge schrieb am 25. Januar 2007 um 14:06: 

    Die Mehrheit wird nie etwas wirklich ändern, da habe ich keine Illusionen. Ich will sie auch nicht nach “oben” aufmotzen. Diesen Anspruch zu haben, wäre anmaßend – und Erfolg hätte man wahrscheinlich auch nicht. Aber ich denke, man muss da, wo es kritisch wird, zumindest die “Schutzbefohlenen”, die Schwachen schützen.

  5. SLash schrieb am 25. Januar 2007 um 21:12: 

    Zitat:
    “Die Mehrheit wird nie etwas wirklich ändern, da habe ich keine Illusionen.”
    Das ist eigenartig; denn die Mehrheit bestimmt immer wo es lang geht und was en vogue ist. Siehe Quote, Moral, Mode, Sprache, Demokratie…