Inklusion, Integration, individuelle Förderung
Es gibt tatsächlich Ausnahmen zur ansonsten so ungemein heftig verteidigten Schulpflicht in Deutschland. Dann nämlich, wenn Schulen ratlos sind, überfordert und z.T. auch unwillig, sich um ein besonderes Kind zu kümmern.
Schulpflicht? Erstmal nicht für Amir titelt der Kölner Stadt-Anzeiger.
Ein hochbegabter Junge – und zudem Asperger Autist, da war auf einmal, nach einer langen Schul-Odyssee, für Amir keine Schule mehr zu finden. Siehe auch hier.
In den vorherigen Schulen – z. T. teuer bezahlte Privatschulen – beteiligten sich auch schon einmal gerne auch Lehrer am allgemeinen Mobbing gegen den Jungen, der einfach ganz anders war als die anderen Kindern.
Hochbegabt – oft schon schlimm genug. Aber dann auch noch Asperger…
Amir hat allerdings das Asperger Syndrom in einer Weise, die durchaus bei einer (eigentlich ja längst schon gesetzlich geforderten) wirklichen individuellen Förderung ganz kompatibel mit dem normalen Schulunterricht sein kann. Allerdings müssten Lehrer und Mitschüler das wollen. Und viele wollen nicht!
Nun möchte ich daran erinnern – und dieses Faktum scheint mir immer noch nicht wirklich ins allgemeine Bewusstsein gedrungen zu sein – , dass Deutschland im vorletzten Jahr die sogenannte UN-Behindertenkonvention unterschrieben hat, die umzusetzen jetzt Pflicht ist! Nun hat diese Konvention einen § 24, der eigentlich ganz harmlos daherkommt und schlicht aussagt, dass Inklusion der Normalfall sein muss.
Diese einfache Aussage ist allerdings nichts anderes als eine Atombombe mit Zeitzünder für unser bisheriges Schulsystem.
Sie bedeutet in aller Konsequenz, dass letztlich so gut wie alle Förderschulen aufgelöst und die im Volksmund so genannten “Sonderschüler” im normalen Schulsystem mit allen anderen Schülern zusammen “individuell” unterrichtet werden müssen. Das gilt für hörbehinderte, sehbehinderte, schwerstmehrfach behinderte Kinder genauso wie für “erziehungsschwierige”, Autisten etc.
Das Ganze klappt ja heute schon nicht, wie wir immer wieder sehen, mit einer schon immer zwangs- aber nicht wirklich integrierten Sondergruppe von Schülern, den Hochbegabten. Wie soll das werden, wenn die o.g. genannten Gruppen auch noch “selbstverständlich” in unserem bisherigen Schulsystem unterrichtet werden müssen?
Amir wäre dort ein Muster an “Normalität”…
Seit einiger Zeit bin ich im Schulministerium NRW Mitglied einer Arbeitsgruppe, die die Umsetzung des § 24 der Behindertenkonvention inhaltlich und praktisch vorbereiten und in die Wege leiten soll. Mitglieder dieses Gesprächskreises sind Politiker aller Couleur, Professoren, Vertreter verschiedenster Behindertenverbände, Schulformen, des Städtetages, der Kommunen etc. etc.
Was ich sagen kann, ist, dass alle wirklich guten Willens sind. Aber – die Materie ist so ungeheuer komplex, dass ich nicht sehen kann, wie das Ganze auf absehbare Zeit konkret umgesetzt werden kann, ohne das alte Schulsystem völlig umzukrempeln.
Mir ist es extrem wichtig, in diesem Gesprächskreis mitarbeiten zu können, weil ich die Befürchtung habe (berechtigt, wie sich schon herausgestellt hat), dass aufgrund der massiven Anstrengungen und Probleme, alle Sonderschüler “irgendwie” ins normale Schulsystem zu “pressen”, die hochbegabten Schüler dann vollends hinten rüber fallen, weil die Probleme mit allen anderen so groß sein werden, dass auf die Hochbegabten dann sowieso niemand ein Auge mehr hat. Dies ist im Vorfeld am besten zu verhindern, indem ich es immer wieder zur Sprache bringe.
Das Ganze kann nur gelingen, meiner Meinung nach, wenn wirklich ein völlig neuer Wind in unsere Schulen eingelassen wird: Abkehr vom Frontalunterricht in starren Klassen, Lehrer in Mentorenfunktion als “Lernbegleiter” und nicht mehr als “Eintrichterer”, wirkliche individuelle Förderung in Abkehr vom zielidentischen Unterricht etc., sind Stichworte dazu.
Amir durfte nun an einem Gymnasium in Leverkusen ein paar Tage hospitieren. Die Schule weiß, wie man mit autistischen Kindern umgeht. Er sei „total glücklich“ nach Hause gekommen, sagt seine Mutter. Es ist nur zu hoffen, dass die bürokratischen Hürden, die bei einem solchen Schulwechsel anstehen, den Hoffnungsfunken für Amir nicht zunichte machen.
Übrigens: Nur um die Dimension dessen, was da geschehen muss, anschaulich zu machen:
Es gibt über 400.000 Förderschüler aller Art in Deutschland, die integriert werden sollen und müssen…
Sabine schrieb am 21. April 2010 um 22:38:
Amir darf ab morgen nach vier Monaten ruhender Schulpflicht wieder ganz regulär zur Schule gehen. Ein Team von Schulbegleitern wird ihn unterstützen.
Schade, dass erst die Presse erreichen konnte, dass einem behinderten Kind die Aufmerksamkeit zukommt, die es braucht, um in dieser Gesellschaft eine Chance zu haben.
Ich hoffe, dass unser Leben nun endlich wieder geregelt und ruhig verlaufen wird.
Sabine
Speybridge » Blog Archive » Blick über den Zaun: Die Schweiz schrieb am 14. Juni 2010 um 09:45:
[…] die – wie Deutschland auch – die UN-Behindertenkonvention unterzeichnet haben (siehe hier und […]