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Wesen

In den letzten zwei Tagen ist mir mehrfach, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, ein ja nun wirklich nicht besonders bekanntes Gedicht über den Weg gelaufen, das mich sehr an eines der Epigramme von Angelus Silesius, den ich sehr schätze, erinnert.
Deshalb hier und heute – und ohne Kommentar meinerseits – beide Texte:

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Mensch werde wesentlich: denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.

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In einem alten Buche stieß ich auf ein Wort,
Das traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort:
Und wenn ich mich an trübe Lust vergebe,
Schein, Lug und Spiel zu mir anstatt des Wesens hebe,
Wenn ich gefällig mich mit raschem Sinn belüge,
Als wäre Dunkles klar, als wenn nicht Leben tausend wild verschlossne Tore trüge,
Und Worte wiederspreche, deren Weite nie ich ausgefühlt,
Und Dinge fasse, deren Sein mich niemals aufgewühlt,
Wenn mich willkommner Traum mit Sammethänden streicht,
Und Tag und Wirklichkeit von mir entweicht,
Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich,
Dann steht das Wort mir auf: Mensch, werde wesentlich!

(Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, 1657; Ernst Stadler: Der Spruch, Reclam 1968)

 

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