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Neue Kurzsichtigkeit

Ist nun jeder gute Schüler hochbegabt? Ist andererseits jeder hochbegabte Schüler automatisch ein schulischer Überflieger?
Diese Fragestellung ist aktueller denn je.

Starke Schüler brauchen Förderung” titelt Echo-online.
So lobenswert diese Feststellung ist und so modellhaft sinnvoll der Umgang mit Hochbegabung auf den mit dem hessischen Gütesiegel ausgezeichneten Gesamtschulen Münster und Rodgau, so sehr erregen die Aussagen der jeweiligen Direktoren dieser Schulen in mir den Argwohn, dass es wiederum nur die Schüler mit den guten Noten sind, die in den Genuss der entsprechenden Fördermaßnahmen für Hochbegabte kommen:

“Ich tue mich schwer mit dem Begriff Hochbegabung und spreche lieber von hochmotivierten und leistungsstarken Schülern“, sagt z.B. Herr Cwielong vom Gymnasium Münster.
Und Heidi Kempf von der Rodgauer Schule: “Verschwindend wenige Schüler seien getestet hochbegabt, alle motivierten, lernfreudigen Schüler würden in den Kursen zusammengefasst.”

Mich stört an dieser Aussage nicht, dass Schüler nicht getestet sind – mich stört allerdings, dass der Blick einmal wieder nicht gerichtet ist auf die hochbegabten Schüler, die eben nicht “motiviert und leistungsstark” sind, weil ihre Vorgeschichte sie zu Underachievern gemacht hat. Es geht einmal wieder nur um die Hochleister.

Mein Verdacht bestätigt sich immer mehr: Das “Phänomen” Hochbegabung ist zwar so langsam salonfähig geworden, und man tut auch recht gerne etwas für die Hochleister. So etwas schmückt mittlerweile ja auch. Diejenigen aber, die an ihrer Hochbegabung leiden, Minderleister geworden sind, nicht motiviert vielleicht sogar zum Problem geworden sind, weil sie z.B. keine Hausaufgaben machen, stören etc. die fallen mittlerweile immer öfter durch jedes Raster, während die Hochleister hofiert werden.

Da hat sich eine neue Art des falschen Umgangs mit Hochbegabung entwickelt.
Diese basiert oft auf Unkenntnis, die – sorry – auch z.T. darauf zurückzuführen ist, dass die meisten Menschen/Pädagogen, die mit Schule zu tun haben, halt nicht hochbegabt sind, einfach keine eigenen Erfahrungswerte damit besitzen und deswegen einfach diesen Qualitätssprung im Denken selbst nicht nachvollziehen können (wer noch nie Eierlikör getrunken hat, weiß nicht, wie er schmeckt). Auch deswegen werden so häufig Schüler anhand der “normalen” und sozial anerkannten Kriterien für die Hochbegabtenprogramme halt leistungsorientiert ausgewählt. Leistung ist handfest.

Pädagogin Heidi Kempf: „Lehrer sind sehr wohl in der Lage, hochbegabte Schüler von fleißigen zu unterscheiden.“
Sorry: aber das glaube ich ganz und gar nicht. Das mag vielleicht bei der Unterscheidung innerhalb der Gruppe der wirklichen Hochleister zutreffen, ansonsten aber nicht!
Im Gegenteil, der Trend geht in die andere Richtung, nämlich die simple Gleichung “Motivierter Hochleister = vielleicht hochbegabt” bzw. im Umkehrschluss “Minderleister, Leistungsverweigerer = Problem und bestimmt nicht hochbegabt” für die Wirklichkeit zu halten und als Basis pädagogischen Handelns zu nehmen.

Es gehen immer noch viel zu viele hochbegabte Schüler verloren, weil sie nicht als hochbegabt erkannt werden und – wenn es sich um Minderleister handelt – weil es viel zu wenige Underachiver-Programme gibt.

Hochbegabte Hochleister hat man mittlerweile gerne – Underachiver dagegen werden sogar oft auch in den Schulen ausgegrenzt, die sich ansonsten den Umgang mit Hocbegabung auf die Fahnen geschrieben haben.


 

31 Kommentare zu “Neue Kurzsichtigkeit”

  1. Ellen schrieb am 2. September 2008 um 04:23: 

    Wobei das auch umgekehrt bescheuert geht.

    Als ich in Klasse 13 war, hatte ich bei einem Lehrer Psychologie-Grundkurs, der sich für sehr weltoffen und all das hielt. Vorurteile meinte er nicht zu kennen…

    Irgendwann haben wir uns auch mit dem Thema Intelligenz befasst.

    Und in dem Zusammenhang meinte er dann auch, auf den Unterschied zwischen Hochleistern und Hochbegabten aufmerksam machen zu müssen.

    Seine These war, dass die Tatsache, dass man Hochleister ist, ein Indiz dafür sei, dass man nicht hochbegabt sein kann: “Die meisten Leute mit einem sehr guten Abi haben einen IQ von ungefähr 120.”