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Alter und Beginn

“Jetzt ist es soweit!”, dachte ich letztens, als ich in einer der großen Elektronikketten im CD-Bereich “Indipendent” nach einer meiner Lieblingsgruppen schaute.
“Sie haben sich doch sicher verlaufen. Kann ich Ihnen helfen?”, fragte mich einer der Verkäufer, ein netter gepiercter Youngster, freundlich.
Ich verstand: Ich war die falsche Zielgruppe für die CDs im Indie-Regal, vor dem ich stand. Er wollte mich alte Frau sicherlich zu den deutschen Schlagern führen oder zu dem volksdümmlichen Zeug, zu dem Millionen im Takt klatschen.
Sehr fürsorglich! Ich blieb freundlich; er konnte nichts dazu.

Nein, verflixt, ich habe mich nicht verlaufen. Ich liebe “Nightwish” und noch alles mögliche andere, auch natürlich Klassik und Besinnliches, und immer wieder auch noch etwas Neues. Und auch Lautes und Kreatives.
Und ich bin trotzdem 50 und finde das völlig in Ordnung.

Was heißt das überhaupt, Alter?

Einerseits will es niemand haben.
Andererseits gibt es eine immer gigantischere und mittlerweile unüberschaubare Industrie, die mich und meinesgleichen über 50 davon überzeugen will, dass es sich lohne, unendlich viel Geld in unendlich überflüssige Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel, Operationen, “Aktivreisen”, Rheumadecken und Vergnügungsartikel zu stecken, weil das alles zu einem “erfüllten Alter” gehöre.

Alt werden?
“Erfülltes Alter”?
Früher einmal hieß das auch: Reifen. Weise werden.

Heute scheint es damit schlecht bestellt.

Immer häufiger erlebe ich Menschen meines Altersbereiches, gesund, aktiv, berufstätig, in der ganzen Welt herumreisend und sich vergnügend, als psychisch und geistig konservierte, eingefrorene Ausgaben ihrer selbst vor 20 Jahren.
Immer dieselben Sprüche, immer dieselben Meinungen, immer dieselben Abfolgen der immer selben Handlungsstränge.
Sich verselbstständigt habende Rituale.
Begleitet von immer derselben Musik vergangener Jugendzeiten.
“Oldies”.

Ist das nicht traurig?
Da ist oft keine Bewegung mehr. Keine Veränderung. Kein Wandel. Keine Entwicklung. Kein Reifen.

Viele Menschen werden nur noch alt; sie reifen nicht mehr.

Dabei ist dies die wunderbare Möglichkeit des Menschen:
“Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.”
(Zen-Buddhismus und Psychoanalyse”, Suhrkamp Tb)

Ich will alt werden! Geboren werden in jedem Moment. Jedes Einatmen, jedes Ausatmen: frisch, neu – wie nie.
Immer neues Leben von Atemzug zu Atemzug. Immer wieder Leben. Neues, unverbrauchtes Leben, weil es Leben JETZT ist, unschuldig neugeboren, unendlich.
Immerwährender Beginn.
Und wunderbar.

Fast zu bekannt, dieses Gedicht von Hermann Hesse, so oft gelesen, so oft vergessen – und so schön, so wahr:

Stufen

Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and’re, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

38 Kommentare zu “Alter und Beginn”

  1. Epiphanius schrieb am 8. November 2006 um 17:18: 

    Danke für den schönen Text Speybridge, er ist mir eine Wohltat.