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Zurück in die Zukunft – Kopfnoten

Nun wird es also in NRW laut der neuen Ausbildungsordnung für die Sekundarstufe 1 ab dem nächsten Schuljahr wieder Kopfnoten geben – und zwar gleich sechs Stück!

Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit/Sorgfalt, Verantwortungsbereit- schaft, Selbstständigkeit, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit werden dann also zweimal im Jahr pro Schüler mit einer Note (sehr gut, gut, befriedigend, unbefriedigend) bewertet.

Diese in höchstem Maße zweifelhafte “Neuerung” ist an sich schon extrem kritisch zu bewerten. Bei Kindern mit Hochbegabung, so ist zu vermuten, wird es durch diese Regelung wahrscheinlich zu besonders gravierenden Ungerechtigkeiten kommen.

Nehmen wir also zunächst die “Leistungsbereitschaft“: Hochbegabte Kinder sind leistungsbereit, sogar in hohem Maße. Sollen sie aber über lange Zeit hinweg sie völlig unterfordernde kleinschrittige Wiederholungsaufgaben erledigen und nichts weiter, so werden sie sich dort sicherlich nicht hervortun. Sie bekommen oft gar keine Möglichkeit, ihre Leistungsbereitschaft unter Beweis zu stellen – und werden in dieser Kopfnote häufig nicht gut bewertet werden. Sind sie deswegen also weniger leistungsbereit???
Schon in den Fachnoten erlebt man deutliche Ungerechtigkeiten bei der Benotung Hochbegabter: ein mir bekannter Junge wurde im Physikunterricht gar nicht mehr aufgerufen mit der Begründung des Lehrers: “Ich frage dich nicht mehr; ich weiß ja, dass du das weißt.” Der Junge zeigte daraufhin logischerweise nicht mehr auf, bekam aber auch keine andere Möglichkeit, sein Wissen zu zeigen. Am Ende des Schuljahres sollte er gerade noch knapp eine 4 in Physik bekommen – wegen mangelnder mündlicher Beteiligung! Bei dieser konkreten Situation konnte man noch einschreiten, es gab ja auch Zeugen für die Aussage des Lehrers, aber bei einer “weichen” Note wie dieser Kopfnote “Leistungsbereitschaft” wird das schwieriger.

Zuverlässigkeit/Sorgfalt: Hochbegabte Kinder, die, wie alle anderen auch, hunderte von Rechenpäckchen zu einer mathematischen Lächerlichkeit schreiben oder wochenlang Lückentexte zu immer demselben sprachlichen “Problem” ausfüllen müssen, werden diese Aufgaben schnell nicht mehr mit der “nötigen” Sorgfalt erledigen, da sie einfach nur noch eine Qual darstellen. Noch eine schlechte Note.

Selbstständigkeit/Verantwortungsbereitschaft: Dabei wird meist verstanden, sich eigenständig im vorgegebenen Rahmen zu bewegen und dort evtl. auch Verantwortung zu übernehmen. Hochbegabte Kinder sprengen diesen Rahmen aber gerne durch Fragen, weitergehende inhaltliche Beiträge oder/und andersartige Arbeitswege. Dies wird dann gerne eher als unangemessen denn als gewünschte Selbstständigkeit bewertet. Notenmäßig zumindest kritisch für diese Kinder.
Dasselbe gilt für die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen: Hochbegabte Kinder sind dazu schon sehr früh in der Lage. Dies aber in einer evtl. dauerhaft als nicht erträglich empfundenen Situation tun zu sollen, kann für sie problematisch sein.

Konfliktverhalten: Ständige Unterforderung führt, vor allem bei Jungen, oft irgendwann zu auffälligem Verhalten im Unterricht. Bekannte Phänomene sind das Spielen des Klassenclowns, aktives Stören des als öde empfundenen Unterrichts und anderes.
Um wieder einmal das, meiner Meinung nach, sehr ausdrucksvolle und sprechende Bild des Schwimmers ins Spiel zu bringen: ein guter Schwimmer, der sich ewig mit Nichtschwimmern im Nichtschwimmerbecken mit Schwimmübungen beschäftigen muss, wird aus Frust und Unterforderung sehr schnell randalieren, andere untertauchen, bespritzen etc. Jeder wird das verstehen und dem Schwimmer die Möglichkeit geben, nach seinen Fähigkeiten trainieren zu können. Von hochbegabten “intellektuellen Schwimmern” aber wird erwartet, sich auf Jahre hin im “geistigen Nichtschwimmerbecken” gut zu benehmen, sich dabei auch noch zurückzuhalten und gute Miene zum öden Spiel zu machen. Das geht oft nicht gut, denn das ist eine Zumutung (die man einem guten Schwimmer definitiv ersparen würde)
Eine schlechte Note in “Konfliktverhalten” ist also häufig vorprogrammiert.

Kooperationsfähigkeit kann ein (hochbegabtes) Kind nur entwickeln, wenn mit ihm auch tatsächlich kooperiert wird, d.h., wenn es ernstgenommen und entsprechend seinen Möglichkeiten in die Pflicht genommen wird. Dann wird es dort kaum Schwierigkeiten geben. Teamarbeit mit Mitschülern, die letztlich mit den Beiträgen des hochbegabten Schülers nicht viel anfangen können, ist nur dann erfolgreich möglich, wenn diesem auch die Möglichkeit gegeben wird, Beiträge zu leisten, die ihm entsprechen. Wenn Kooperationsfähigkeit aber nur bedeutet, dass der/die Hochbegabte sich selbst ständig reduzieren muss, um in der Gruppe irgendwie zu überleben, kann es auch in diesem Notenbereich Probleme geben, weil das auf Dauer nicht auszuhalten ist.

Kopfnoten –
Zurück in die Zukunft?
Oder eher: Vorwärts in die Vergangenheit?

 

3 Kommentare zu “Zurück in die Zukunft – Kopfnoten”

  1. SLash schrieb am 22. Januar 2007 um 00:30: 

    Die Ungerechtigkeit gegen Hochbegabte fängt bei der Nichtentdeckung an. Über die Kopfnoten diese Ungerechtigkeit anzuprangern halte ich für verspätet und unsinnig; denn was macht ein (erkannter) Hochbegabter in dieser Klasse ? Und wenn er nicht erkannt wurde, liegt die Ungerechtigkeit viel früher auf dem seinem Weg.

  2. speybridge schrieb am 22. Januar 2007 um 09:11: 

    Ja, Nichtentdeckung ist das Problem Nummer 1, aber nicht das einzige. Ich bin immer wieder erschüttert, wenn Eltern sich melden und völlig erstaunt darüber sind, dass ihr 13-Jähriger hochbegabt sein soll. Bis dahin hat das Kind schon einen langen Leidensweg hinter sich und viele Symptome produziert, zumindest dahingehend zwingend, dass nun wohl in der Not (weil das Kind nicht mehr richtig funktionierte) eine Untersuchung/ein Test stattgefunden hat. Bis dahin, in 13 Jahren, haben x Personen intensivsten Kontakt mit dem Kind gehabt – und alle müssen schon sehr blind gewesen sein, um nichts zu bemerken. Viele Menschen sind nur auf sich selbst hin orientiert, unter Druck, vollauf damit beschäftigt mit ihren eigenen Dingen irgendwie über die Runden zu kommen – da werden individuelle Besonderheiten bei Kindern oft gar nicht wahr- oder ernstgenommen – oder erst, wenn es irgendwann manifeste Störungen gibt. Das gilt für Eltern, Erzieher und halt auch Lehrer.
    Kopfnoten und ähnliche Dinge sind halt “nur” weitere Erschwernisse für Hochbegabte in der Schule. Aber man muss darüber reden, weil sie konkret negative Auswirkungen haben können.

  3. SLash schrieb am 23. Januar 2007 um 12:24: 

    Ich wurde mit diesen Kopfnoten groß und glaube nicht das sie mir geschadet haben. Dann müssen wir über Noten überhaupt diskutieren. Nie im Leben war ich in Englisch besser als in Deutsch, oder hatte Ahnung in Religion. Mein Zeugnis sagt etwas anderes. Noten sind ein Hinweis vielleicht ein Trend (aber keine Wahrheit) der immer negative Auswirkungen haben kann. Deshalb die Noten abschaffen ? Irgendein Kriterium über Nachweise braucht man wohl. Im ehemaligen Land der Dichter und Denker passt unser Schulsystem wirklich nicht mehr. Wir könnten so viel von den Skandinaviern lernen, wenn die Zuständigen nur wollten.