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Ratlos

Letzte Woche hatte ich Kontakt mit der Mutter eines hochbegabten 9-jährigen Mädchens, Leonie.

Leonie, viertes Schuljahr, hatte einen Klassenaufsatz zurückbekommen mit einer nur mäßigen Note.
Das alleine wäre nichts Besonderes.
Eine spezielle “Note” bekommt diese Situation allerdings durch den Begleitkommentar der Lehrerin:
“Dein Aufsatz ist zu erwachsen, Leonie. Schreib nächstens wieder deinem Alter entsprechend! Dann wird deine Note auch wieder besser.”

Versetze ich mich in diesem Moment in Leonie hinein, dann ist da nichts außer einem jähen inneren Verstummen, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und dem schrecklich traurigen Gefühl, nicht verstanden zu werden, sondern mit diesem Aufsatz auch als Person zurückgewiesen und abgelehnt zu werden.

Ablehnung ihres So-Seins – das ist es, was hochbegabte Kinder oft erleben.

Hochbegabung als persönlicher Makel.

Was soll Leonie tun beim nächsten Aufsatz, beim nächsten mündlichen Beitrag?

 

38 Kommentare zu “Ratlos”

  1. SLash schrieb am 22. Januar 2007 um 00:16: 

    Unsere Schulen sind Phantasiekiller Nr. 1
    Mir fehlt die Pädagogik in den Lehrinhalten sowie bei den Lehrern.
    Leonie braucht vor allem die Unterstützung ihrer Eltern die ihr das Selbstvertrauen geben müssen, so zu sein wie sie ist.
    Interessant zu erfahren, wie die Eltern (Mutter) auf den Kommentar der Lehrerin reagiert haben.
    Ich habe nächste Woche einen Termin bei der Schuldirektorin meines Sohnes 1. Klasse. Dort werden ihm Sätze beigebracht wie:
    Umi tollt mit Ali im Mist.
    Alis Tussi malt mit Limo.
    Ist Momo im Salamisalat ?

    Diese Lehrinhalte sind vom Bildungsministerium abgesegnet. Ich möchte ihre Meinung dazu hören.
    Kinder spielen in der Scheiße ?
    Tussi ist eine diskriminierende u. frauenfeindliche Anmaßung.
    Was soll ein Mensch im Essen ?

    Gibt es keine besseren Sätze, dass erworbene Wissen zu üben ?

  2. speybridge schrieb am 22. Januar 2007 um 08:51: 

    Das mit dem Selbstvertrauen ist natürlich richtig, und wenn alles optimal läuft, eine wirkliche Hilfe für das Kind, die Situation richtig einzuschätzen. Dem ist aber häufig nicht so: Gerade in der letzten Zeit verschärfen sich auch die familiären Verhältnisse in Familien mit Hochbegabten: sehr viele alleinerziehende Mütter unter Druck und oft in Geldnot, Arbeitslosigkeit, Patchworkfamilien, häufige Umzüge, zugespitzte psychische Problematiken, undurchsichtige Vielfalt von unterschiedlichsten Symptomen etc. erschweren das produktive Umgehen mit der Situation, weil nicht selten sowieso schon eine Überforderungssituation in der Familie herrscht. Oft ist es auch so, dass in den Familien die Hochbegabung des Kindes nicht wirklich “gewollt” ist. Wie oft habe ich gehört: “Wir wollen doch nur ein normales Kind!” Die Unterstützung ist eher lau – und oft wird dem Kind vermittelt, es käme am besten “durch”, wenn es sich anpasste. Die Eltern, vor allem die Mütter, wagen es zudem oft nicht, den Lehrern offensiv gegenüberzutreten – und wenn sie es tun, dann leider häufig so vehement und auch beleidigend, dass sie mehr Probleme damit produzieren als sie lösen.
    Ist alles nicht so leicht.

    Die aufgeführten Sätze aus der 1. Klasse sind einfach eine Zumutung – nicht nur für hochbegabte Kinder. Ist es zu fasssen?!?! Für hb Kinder, die zudem schon fließend lesen können, sind solche Dinge wirklich eine Qual. Sie sind für diese Kinder ja noch nicht einmal mit einem eventuellen Lerneffekt verbunden. Schrecklich!

  3. SLash schrieb am 23. Januar 2007 um 12:08: 

    Die von dir beschriebenen Probleme mögen schwierig sein, aber ich frage mich wozu diese Menschen Kinder in die Welt setzen ?
    Erziehungsschwierigkeiten ist eine Sache, aber sein Kind in seiner Entwicklung nicht zu unterstützen ??? Wir sind selbst ALG-II-Empfänger und Geldnot ist kein Grund sich zu schämen, oder sein Kind nicht zu unterstützen. Ich hasse “Geld” als Argument in allen Fällen.
    Vermutlich habe ich auch einen Hochbegabten und manchmal fühle ich mich peinlich berührt, wenn er in der Gesellschaft so hervorsticht. Aber gleichzeitig denke ich, ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich nötige meinen Sohn nicht zu dieser Leistung. Ich unterstütze ihn nur. Für uns ist er völlig normal.

  4. speybridge schrieb am 23. Januar 2007 um 13:10: 

    Ich glaube, Geld als Geld spielt dabei auch eine untergeordnete Rolle, vielleicht insofern, dass es oft nicht möglich ist, Zusatzkurse, Musikunterricht etc. zu finanzieren. Das Problem ist eher der allgemeine Druck, der häufig aus vielfältigen Gründen in den Familien herrscht – und vor allem häufig die Undifferenziertheit von Wahrnehmung und der Wunsch, das Kind möge einfach nicht auffallen. Mich erschreckt es, nicht selten erleben zu müssen, wie sehr Eltern in ziemlich egozentrischer Weise in ihre eigenen Probleme verstrickt sind und ihre Kinder gar nicht wirklich wahrnehmen. Oft wird es Kindern sogar übelgenommen, dass sie bei all den Problemen, die sowieso schon da sind, nicht reibungslos funktionieren, sondern “auch noch” Ärger machen. Immer öfter sind auch beide Elternteile berufstätig, sind abends geschafft, bekommen gerade das Nötigste zu Hause geregelt – und alles, was zusätzlichen Aufwand bedeutet, wird möglichst weggeschoben. Nicht selten wird dann erst reagiert, wenn man beim besten Willen nicht mehr an den Problemen vorbeikommt.
    Viele Eltern unterstützen nicht wirklich ihre Kinder in der Art, wie sie sind, sondern wollen, dass diese sich nach Vorstellungen der Eltern entwickeln und sehen ihre Kinder nur mit diesem eingeschränkten Blick. Du sagts selbst, Du fühlst Dich manchmal peinlich berührt – Du tust aber den Schritt weiter, setzt Dich darüber hinweg und reagierst auf Dein Kind hin. Das genau ist der Unterschied, denn das schaffen viele Eltern nicht. Die sind peinlich berührt und wollen, dass das aufhört. Was mit dem Kind ist, das wird nicht wirklich wahrgenommen.

  5. SLash schrieb am 23. Januar 2007 um 21:20: 

    Leider haben diese Menschen verlernt (oder nie gekannt) zu leben.
    Zitat: “…das Kind möge einfach nicht auffallen.”
    Die meisten Menschen auch Eltern, begeben sich nicht einen Schritt in die Wahrnehmung ihrer oder fremder Kinder. Auch ich habe das erst lernen müssen. Ich habe einiges von der RTL Supernanny gelernt und kann diese Sendung nur empfehlen. Dort kann man sehr schön erkennen, wer “erzogen” wird, nämlich die Eltern oder alleinerziehende Mütter. Hauptthema ist Konsequenz und Qualitätszeit mit dem Zeit. Ich glaube viele Eltern denken, wenn sie mit ihrem Kind konsequent umgehen, würden sie von denen weniger geliebt. Sie verstehen nicht, dass ein Kind seine Grenzen austesten muss. Ich habe sehr schön bei mir beobachten können, wann mein Kind mich nervt. Es ist immer nur dann, wenn ich für mich etwas Zeit haben möchte. Wenn ich keine feste Zeiten und ohne Beschäftigung für ihn dies vorhabe, wird es scheitern. Mir ist halt mein Kind wichtiger, als die ganzen Aufgaben im Haushalt. Die können auch etwas später erledigt werden. Wir setzen uns selbst unter Stress und lassen ihn an den Kindern aus. Ich gehe mit ihm z.B. spazieren und denke schon an das Essen welches ich noch vorbereiten muss, oder etwas anderes. Jetzt möchte natürlich ziemlich schnell nach Hause um dies zu erledigen. Das gleiche finde ich auch beim Einkaufen. Dies und das schnell, schnell denn ich muss ja noch nach Hause dies und das vorbereiten. Jetzt hält mein Kind mich auf, weil es da noch schauen muss, oder da noch ein Regenwurm krabbelt, hier noch eine Blume ist usw… Alles was ich vorbereiten muss, kann warten. Ich könnte meinem Kind die Welt erklären die es gerade wahrnimmt und könnte gemütlich ohne Druck nach Hause kommen. Das wäre viel entspannter. Die Eltern die du beschreibst haben einfach einen Denkfehler.

  6. speybridge schrieb am 23. Januar 2007 um 21:38: 

    Ja, völlig richtig. Ich weiß nur nicht, ob es immer ein “Denkfehler” ist; ich befürchte, es ist oft einfach Gedanken-losigkeit, Unbewusstheit, z.T. gepaart mit eigener Bedürftigkeit oder Egozentrik.