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Immerwährender Beginn

Viele gute Wünsche zu Weihnachten und zum neuen Jahr habe ich diesmal bekommen: Sehr persönliche waren dabei, Briefe, Telefongespräche, E-Mails und auch die “üblichen” Karten, per Post oder Internetkartendienste.
Über alles und alle habe ich mich sehr gefreut.

Zwei Sätze, die mir von unterschiedlichen Personen – ganz ohne Arg – geschrieben wurden, haben mich allerdings betroffen gemacht und auch traurig:

Eine ehemalige Klassenkameradin, die ich über eine Internetplattform wiedergefunden hatte und die seit Jahrzehnten in Amerika lebt, schrieb: “Die Zeit verfliegt, und wir werden älter und nicht weiser!”

Und ein ehemaliger Arbeitskollege wünschte mir per E-Mail “einen heiteren Jahreswechsel und eine schön ausgewogene work-life-health-family-income-whatsoever…-balance”.

Ach!, war die deutliche Resonanz in mir. Ach, so kann es nicht sein für mich.

„Mensch werde wesentlich, denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Anschein fort, das Wesen, das besteht.“, sagt Angelus Silesius.

Ja, auch ich werde natürlich älter, keine Frage, und die Zeit rast. Ich habe keine Ahnung, ob ich es “weiser” nennen soll – die Benennung spielt vielleicht keinerlei Rolle –, aber ich bin nun wirklich nicht mehr die, die ich war. Auch nicht die, die ich letztes Jahr gewesen bin.
Nicht, dass ich weniger Fehler machen würde. Nicht, dass ich öfter Recht hätte. Nicht, dass ich mich irgendeinem illusorischen Vollkommenheitsideal annähern oder auch nur ein besserer Mensch werden würde.
Nichts dergleichen.
Darum geht es aber auch nicht auf dem Weg der Reifung.  

Ich lebe und bin lebendig.
Ich beginne. Ich beginne immer wieder neu.
Mit jedem Atemzug beginne ich, und jetzt – genau jetzt – bin ich mehr diejenige, die ich in Tiefe und Wahrheit und Wirklichkeit wesenhaft von Anbeginn an und in Ewigkeit bin, als eben noch – und ich bin es weniger, als ich es morgen sein kann und werde.

Anders kann ich nicht leben!

Und, nein: Obwohl ich mich nun wirklich über jede angenehme und harmonische Situation von Herzen freue: Ich wünsche mir kein Wellness-Leben. Ich wünsche mir ganz und gar nicht ein Leben mit einer “schön ausgewogenen work-life-health-family-income-whatsoever…-balance”.

Auch, wenn das manchmal anstrengend ist:
Ich wünsche mir ein Leben, lebendig und immer wieder neu.
Und das Wunderbarste, das ich mir vorstellen kann, ist: Beginn!

Von Erich Fromm stammt das folgende Zitat. Es begleitet mich seit vielen, vielen Jahren:
”Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragik, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.”

Ich wünsche allen ein lebendiges Jahr 2011!

 

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