Vorbild
Im Moment geht die Auswertung einer Umfrage durch alle Zeitungen, in der nach den Vorbildern der Deutschen gefragt wird (WAZ, Die WELT etc.).
Und? Was kommt raus? Wer sind die großen Vorbilder der Nation?
SurpriseSurprise: Albert Schweitzer, Mutter Teresa und Nelson Mandela.
Das Ergebnis las ich zwar mit Verständnis, aber auch mit einem gewissen Überdruss: Da werden halt die üblichen “großen” Namen genannt von Leuten, die man irgendwie toll findet, an deren Handeln sich aber letztlich kaum jemand wirklich orientiert.
Ich überlegte dann, wer denn überhaupt für mich infrage käme als Vorbild.
Mit den Jahren hat sich – Gott sei Dank – bei mir eine ziemliche Nüchternheit eingestellt, was solche Dinge angeht. Vorbild? Mir kann so leicht niemand mehr etwas vormachen. Glaube ich zumindest.
Also, gibt es da jemanden, von dem ich als meinem Vorbild reden könnte – und der auch wirklich mein Denken und Handeln beeinflusst und verändert hätte?
Die Antwort kam mir ganz spontan und eindeutig, und die entsprechende Person kann durch keine Alternative in die zweite Reihe verdrängt werden. Ja, da gibt es jemanden.
Ich weiß noch nicht einmal, wie dieser Mensch heißt und ob er noch lebt.
In einer kleinen Stadt in Südtirol habe ich ihn vor vielen Jahren gefunden, und ich habe ihn nie vergessen.
Er arbeitete im Zentrum der Stadt in einem öffentlichen Toilettenhäuschen.
Er war offensichtlich geistig behindert.
Trotzdem schaffte er es, das Toilettenhäuschen zu managen – links die Damen, rechts die Herren, er in einem kleinen Kabuff in der Mitte zum Kassieren, zum Aufpassen und zum ständigen Reinigen der Anlage. Das alles war deutlich sehr anstrengend für ihn und eine wirkliche Herausforderung.
Ich zahlte, benutzte die Anlage – und konnte gar nicht mehr aufhören, diesen Mann zu beobachten:
Niemals vorher und niemals nachher habe ich einen Menschen erlebt, der mit einer solchen Inbrunst und Intensität seine Dinge tat – Dinge, die bei vielen nur Naserümpfen hervorrufen würden.
Mit einer ungeheuren Ernsthaftigkeit, ja Ehrfurcht, nahm er das Geld entgegen und schaute es lange und aufmerksam an, um sicherzugehen, dass auch alles stimmte. Dann gab er mir das Wechselgeld zurück, dessen Berechnung ihm sichtlich Mühe bereitete. Anschließend reichte – nein: überreichte – er mir einen kleinen Kassenzettel. Als ich ging, sortierte er langsam und aufmerksam die kleinen Münzen in die Schublade einer einfachen Kasse ein, nahm dann einen Korb mit Reinigungsmitteln und säuberte die Toiletten. Er ging vollständig auf in dem, was er tat – mit jeder Bewegung, jeder Geste.
Das alles dauerte länger als gewöhnlich – und konnte doch für mich gar nicht lange genug dauern: Die Lektion, die ich durch ihn erhielt, war einzigartig und hielt lange an – sie hält an und wirkt bis zum heutigen Tag:
Nicht WAS wir tun – wie oft können wir das gar nicht wählen –, ist wichtig, sondern WIE wir es tun. Darin sind wir immer frei. Ich habe hier auf speybridge schon darüber geschrieben.
Dieser behinderte Mensch handelte meisterlich.
Sein Toilettenhäuschen war sein Königreich, das er mit seinem ganzen Sein, mit allem, was ihm überhaupt möglich war, zu seinem Lebensinhalt und seiner Lebensaufgabe gemacht hatte.
Ganz natürlich.
In vollem Ernst.
Mit ganzer Hingabe.
In unantastbarer Würde.
Ohne etwas zu erwarten.
Völlig authentisch und eins mit sich und der Welt.
Gibt es ein größeres Vorbild?