Tabu Hochbegabung in der Familie
Zu den Beratungsgesprächen mit Eltern hochbegabter Kinder, die am längsten in mir nachhallen, gehören die Gespräche, in denen ich irgendwann eindeutig Witterung der Spur eines Phänomens aufnehme und verfolge, das für mich zu den verstörendsten und zerstörendsten von (Familien-) Beziehungssystemen gehört: Das ist das Tabu.
Es gab und gibt diese Gespräche immer wieder, in denen sich nicht die Hochbegabung an sich als “des Pudels Kern” der Problematik eines Kindes erweist, sondern das Tabu, dem die Hochbegabung innerhalb der Familie unterliegt – aller Aufklärung und Diskussion zum Thema zum Trotz. Gerade im letzten Monat musste ich wieder zwei solcher Gespräche erleben.
So gut wie immer sind es in diesen Fällen meiner Erfahrung nach die Mütter, die das Tabu errichten, aufrechterhalten, bewachen und gegen jedes Anrühren vehement schützen und abschotten.
Fast immer sind die Kinder, um die es dabei geht, Mädchen, schon älter, oft in der Pubertät. Viele dieser Kinder/Jugendlichen haben schon einschlägige psychiatrische Diagnosen, sie haben oft bereits mehrere Therapien und z.T. auch Aufenthalte in kinderpsychiatrischen Kliniken hinter sich, nehmen Antidepressiva oder andere Medikamente – und all das, ohne dass sich je irgend etwas an ihren Problemen zum Guten verändert hätte. Alles wurde immer nur noch schlimmer und schlimmer.
Es wurde immer an der falschen Stelle gesucht.
Und das mit System.
Weil alles an (Krankheits-) Diagnosen sein durfte – nur Hochbegabung nicht.
Wenn dann irgendwann gar nichts mehr geht, das Kind endgültig unterzugehen droht und das Klima in der Familie einen Grad der Unerträglichkeit erreicht hat, der wirklich nicht mehr weiter auszuhalten ist – dann, erst dann, wenn überhaupt, dann dann -, greift die Mutter – und es ist IMMER die Mutter – zum Telefon und fragt zögerlich, ob ihr Kind nicht vielleicht hochbegabt sein könne – oder sagt, sehr erstaunt, dass ein Test jetzt unvorstellbarerweise eine Hochbegabung ergeben habe und das könne doch wohl gar nicht sein. Und nein, man habe vorher wirklich noch nie einen Verdacht in diese Richtung gehabt …
Das spätestens ist der Moment, in dem ich hellhörig werde …
Was ich in diesen Fällen dann erzählt bekomme, gehört in den “ersten Kreis der Hölle”. Alles ist katastrophal verfahren, das Kind in einer desaströsen psychischen Verfassung, schulisch alles gegen alle Wände gefahren, das Familienleben am Ende, die Therapeuten ratlos.
Kein Ausweg nirgends.
Ich beginne, nachzuhaken: Ja, das Mädchen sei immer schon sehr aufgeweckt gewesen, darauf habe auch der Kinderarzt hingewiesen, habe sehr früh sehr gut gesprochen, sei an allem interessiert gewesen, habe vor der Schule, was man zu verhindern versucht habe, schon lesen und rechnen gekonnt, habe immer über Langeweile im Unterricht geklagt, keine Freunde gehabt, höchstens viel ältere und das habe man als Mutter dann unterbunden, habe sich falsch gefühlt, über Selbstmord gesprochen … Aber es habe sich nie jemand etwas dabei gedacht!
Dieser Satz kommt in diesen Fällen irgendwann IMMER: “Ich habe mir nie etwas dabei gedacht!” Und danach auch – in Variation: “Naja, Schule ist ja auch oft langweilig, da muss man sich eben zusammenreißen”, “Es ist doch normal, auch mal down zu sein”, “Freunde zu haben, ist eben nicht einfach, Einsamkeit ist doch irgendwie einfach normal.”, “Naja, jeder fühlt sich doch mal falsch oder schlecht oder allein.”, “Sich falsch und fremd fühlen, was soll’s?”, “Die anderen, die sind eben alle anders, da muss man mit leben und sich anpassen.” – und solche Aussagen mehr.
Es ist dann – IMMER – ein einziger Satz, im rechten Moment in die Welt gesetzt, der den Eispanzer aufsprengt: “Sie scheinen das ja alles selbst sehr gut zu kennen!”
Die Antwort darauf – oft nach einem langen Moment des Schweigens – ist auch IMMER:
“Ja, Sie haben Recht, und ich habe schrecklich darunter gelitten und aus mir ist ja auch gar nichts Vernünftiges geworden – und deshalb wollte ich meiner Tochter unter allen Umständen all das ersparen!”
Voilà!
Schweigen.
Tiefes Atmen.
Das ist der Moment der Krisis, von dem aus die Mütter – oft zum erstenmal in ihrem Leben – tastende Schritte in ein bisher vermintes Gelände wagen.
Was kann ich dazu noch schreiben, was nicht offensichtlich ist …
Vielleicht hier noch der Hinweis auf einen Zeitungsartikel zum Thema hochbegabte Erwachsene: “Wie von einem anderen Stern“
mo jour schrieb am 6. März 2016 um 19:11:
Liebe Speybridge,
vielen Dank für diese Erzählung aus deinem Alltag.
Ich wünschte, es hätte in meiner unglücklich unerkannt hochbegabten Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren schon solche Stellen gegeben wie die deine.
Dann hätte es vielleicht eine Chance gegeben, meine (ganz sicher ebenfalls hochintelligente) Mutter auch nur ansatzweise auf die richtige Spur zu bringen ….
Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg bei deiner Arbeit. Damit kannst du Menschenleben und -seelen retten.
Liebe Grüße!
mo jour