Hochbegabte Kinder
Ich werde oft gefragt – und das meist mit negativem Unterton – , warum, um alles in der Welt, ich meine kostbare Zeit und mein Engagement schon so lange Jahre lang in den Dienst der Unterstützung hochbegabter Kinder einsetzen würde. Und dann kommen, mit untrüglicher Sicherheit, Argumente dagegen, z.B., dass es ja nun genug Menschen gebe, die weit dringender der Unterstützung bedürften, dass ‘Eliten’ nicht auch noch gefördert werden müssten und dass diese Kinder es ja nun wirklich gut hätten, weil sie ja doch so klug seien etc. etc.
Ich muss dann immer seufzen.
Man stelle sich ‘Petra Mustermann’ vor, die Prototypin aller Deutschen, mit einem Durchschnitts-IQ von 100.
‘Petra Mustermann’ hat kein Problem. Sie ist “normal”.
Kinder, die einen IQ von ca. 70 haben, die haben natürlich ein Problem. Keiner bezweifelt das. Aber für diese Kinder gibt es: eine eigene Pädagogik, eigene Schulen, eigene Studiengänge für ihre Lehrer, eigene Lehrpläne, eigene Materialien und eigene Schulbücher – und das gebündelte Verständnis der gesamten Nation dafür, dass man sich um diese Kinder besonders kümmern muss. Das ist ja auch richtig.
Kinder, die einen IQ von ca. 130 haben, von denen erwartet man jedoch, dass sie mit ‘Petra Mustermann’ alles teilen, zufrieden sind mit dem, womit auch ‘Petra Mustermann’ zufrieden ist.
Diese Kinder mit einem IQ von 130, die sind von ihrem IQ her von ‘Petra Mustermann’ genau so weit entfernt wie die Kinder mit einem IQ von 70. Bei ihnen aber wird vorausgesetzt und erwartet, dass sie genau so sind wie ‘Petra Mustermann’ – und sich dann auch noch gut benehmen.
Wenn Kinder gute Schwimmer sind – akzeptiert dann irgend jemand, dass sie die ganze Zeit im Nichtschwimmerbecken verbringen sollen, weil die anderen halt nicht schwimmen können?
Niemand tut das.
Bei hochbegabten Kindern erwartet man aber genau das. Wie soll das gutgehen?
Das kann nicht gutgehen: Weder für die Kinder noch für unsere Gesellschaft, die gut geschulte und menschliche reife Intelligenz so dringend braucht.
Diese Kinder haben so großes Potenzial! Aber viele von ihnen leiden – meist unter der Ignoranz derjenigen, die glauben, die Normalität für sich gepachtet zu haben, unter Mobbing, Unverständnis, Ausgrenzung, allen möglichen Arten psychischer Verletzungen und nicht zuletzt unter der nicht endenwollenden Unterforderung.
Leiden hat viele Gesichter – und immer ein individuelles. Ist das Leiden hochbegabter Kinder weniger wert als das Leiden minderbegabter oder weniger wert als anderes Leiden? Wer will daüber urteilen?